Argos

 

Er war zwölf, als sie ihn bekam. Er sei schon alt und langsam, erklärten ihre Eltern. Sein halbes Leben habe er in einem Zwinger verbracht, eingesperrt in einem Käfig und geschlagen mit Stöcken. Ob er sein rechtes Vorderbein dort oder bereits früher verloren hatte, wüssten sie nicht, genauso wenig wie seinen Namen. Nun habe er sich einen liebevollen Lebensabend verdient. Sie weinte, mit den Fingern durch sein Fell streichend, das borstig war wie eine Drahtbürste. Sein Kopf war gesenkt und sein Schwanz eingezogen, und er stank, als hätte man ihn noch nie gewaschen. „Alles wird gut“, flüsterte sie in sein Ohr, „alles wird gut“.

Der Hund war ihr Geburtstagsgeschenk; ihre Eltern wollten ihren Fleiß in der Schule belohnen. Doch schon bald war nur noch wenig von diesem Fleiß bemerkbar. Nur noch in jenen seltenen Unterrichtsstunden, in denen es um Hunde ging, zeigte sie Interesse: In einer Deutschstunde lasen sie ein Epos, in dem ein treuer, alter Hund namens Argos sein Herrchen nach dessen zwanzigjähriger Abwesenheit wiedersah, für einen Moment, und gleich darauf starb, ein letztes Mal mit den Lidern zuckend. Normalerweise würden Hunde nicht so lang leben, erklärten ihre Eltern, nachdem sie ihnen von Argos erzählt hatte, so etwas sei nur in Geschichten möglich. So traurig es auch sei – sie müsse sich schon jetzt darauf einstellen, dass der Hund nicht mehr allzu lang leben würde. In diesem Moment beschloss sie, ihm den Namen Argos zu geben.

Die meiste Zeit verbrachte sie damit, Argos zu pflegen und ihm die Angst vor dem alltäglichen Leben zu nehmen. Geduldig brachte sie ihm über Monate hinweg das Gassigehen, das Stiegensteigen und das Rollentreppenfahren mit nur drei Beinen bei. Sie legte rutschfeste Teppiche in der Wohnung aus, besorgte gesundes Futter, badete ihn regelmäßig und brachte ihn zum Tierarzt. Dabei hätten ihre Eltern zwar gerne geholfen, doch sie bestand darauf, alles selbst zu machen. So blieben ihr kaum noch Zeit und Energie für die Schule; ihre Noten verschlechterten sich, und sie musste das Schuljahr wiederholen. Dafür wurde Argos immer gesünder und lebensfroher: Sein Fell wurde so flauschig wie Wolle, sein Kopf war stolz erhoben und sein Schwanz wedelte wild.

Eines Abends erinnerten ihre Eltern sie daran, dass der Hund eine Belohnung für ihren Fleiß gewesen sei; wenn sie weiterhin schlechte Noten schrieb, hätte sie es nicht mehr verdient, ihn zu besitzen. „Für Argos bin ich fleißig genug!“, schrie sie, die Stufen hinauf in ihr Zimmer stürmend. Ihre Eltern klopften an ihre Tür und warnten sie davor, den Hund über die Schule und somit auch über ihre eigene Zukunft zu stellen. Sie würde es bereuen, ihren Erfolg für ihn geopfert zu haben; schließlich würde es bei seinem Gesundheitszustand nicht mehr lange dauern, bis er starb. Da warf sie sich auf ihr Bett und hielt sich die Ohren zu, und auch Argos machte Platz und legte die Pfoten über die Ohren.

Argos war fünfzehn, als sie im Supermarkt zu arbeiten begann. Ihre Eltern sprachen es nie aus, doch jedes Mal, wenn sie sie besuchte, spürte sie, wie enttäuscht sie waren, dass sie nicht studierte. Bei einem gemeinsamen Abendessen in ihrem früheren Zuhause erzählte sie ihnen von Argos: „Gestern Abend habe ich ihm etwas auf der Mundharmonika vorgespielt, und plötzlich hat er begonnen, dazu zu summen und zu jaulen. Wahrscheinlich erinnert ihn die Musik an seine Vergangenheit auf der Straße.“ Ihre Eltern lauschten mit besorgten Gesichtern und fragten, wie es dem Hund gesundheitlich gehe. „Sehr gut“, sagte sie. Schade, sagten sie darauf, aber sie hätten sie ja gewarnt. Sie müsse sich darauf einstellen, dass der Hund schon bald tot sei. Ob sie sich schon Gedanken wegen einer Bestattung mache?

Argos war siebzehn, als ihr erster Freund mit ihr schlussmachte. Sie sei ein guter Mensch, sagte er zu ihr. Am meisten bewundere er an ihr, wie sie sich um Argos kümmere. Doch dafür wirke es, als hätte sie nur wenig Energie für ihn übrig. Letzte Nacht sei sie wieder eingeschlafen. Sie nickte bloß und ließ ihn gehen. Noch am selben Nachmittag ging sie mit Argos in die Hundezone und sah ihm beim Spielen zu. Zwar würde er trotz des Trainings immer langsamer laufen als die anderen Hunde, doch sie nahmen auf ihn Rücksicht. Da fiel ihr auf, dass er in den letzten Jahren kaum gealtert war; so übermütig, wie er spielte, hätte man meinen können, er sei noch immer zwölf, oder sogar jünger.

Argos war neunzehn, als sie den Anruf von ihren Eltern bekam. Es tue ihnen sehr leid, dass Argos nun gestorben sei, erklärten sie, aber sie hätte ihm immerhin noch einen liebevollen Lebensabend geschenkt. Natürlich würden sie zur Bestattung kommen. Sie hatte nicht genug Energie, um ihnen zu widersprechen; es kostete schon genug Kraft, „Danke“, zu sagen und aufzulegen. Neben ihr stand Argos und sah sie aus großen Augen und mit schiefgelegtem Kopf an. Einige Wochen später saß sie mit ihren Eltern wieder zusammen beim Abendessen. Die Bestattung des Hundes sei angemessen gewesen, urteilten sie. Es war das letzte Mal, dass sie über Argos sprachen.

Argos war sechsundzwanzig, als sie ihren Job verlor. Sie sei einfach nicht fleißig genug, erklärte die Filialleiterin; regelmäßig würden sich Kunden über ihre Langsamkeit beschweren. Wo sei sie denn bloß die ganze Zeit mit ihren Gedanken? Frustriert beschloss sie, wieder Musik mit Argos zu machen und ein Lied ins Internet zu stellen. Innerhalb weniger Wochen wurde der zu einer Mundharmonika summende Hund zu einem Hit. Durch die Werbeeinnahmen wurde sie zwar nicht reich, musste sich jedoch keine Sorgen mehr über ihre Mietkosten machen.

Argos war vierundvierzig, als ihre Eltern starben. Sie nahm ihn mit zur Bestattung, um nicht allein zu sein. Den Heimweg vom Friedhof gingen sie zu Fuß durch die Stadt. Argos zog so stark an der Leine, dass sie beschloss, ihn frei laufen zu lassen; die Straßen waren nahezu leer, und sie vertraute ihm. Seine Nase, die mittlerweile viel mehr Erfahrung als die von normalen Hunden hatte, führte sie zurück zu ihrer Wohnung. Dort legte Argos sich nach mehrmaligem Umdrehen auf seinen Platz und schlief sofort ein; lange Strecken mit drei Beinen zu gehen war anstrengend.

Argos war neunundfünfzig, als sie die Diagnose bekam. „Ich werde nicht mehr da sein können“, erklärte sie ihm. „Ich werde nicht mehr mit dir Gassi gehen können. Ich werde dir nicht einmal mehr dein Futter bringen können. Vielleicht werde ich das Krankenhaus nicht mehr verlassen.“ Argos verstand, obwohl er die Wörter nicht kannte. Nach so vielen Jahren auf der Welt konnte er zwar die Bedeutung hinter den Tönen, die sie von sich gab, noch immer nicht konstruieren; er wusste jedoch, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Über das Internet fand sie eine interessierte Familie mit einem Haus im Grünen, etwa zwei Stunden mit dem Auto entfernt. Der Familienvater holte Argos direkt von dem Krankenhaus ab, in dem sie lag. Die Verabschiedung fiel ihr leichter, als sie befürchtet hatte; all ihre Aufmerksamkeit galt Argos‘ Wohl. Mit den Fingern durch sein flauschiges Fell streichend flüsterte sie ein letztes Mal „Alles wird gut“ in sein Ohr. Während der Autofahrt ins Grüne blickte Argos durch die Heckscheibe und nie woanders hin.

Argos war sechzig, als sie erfuhr, dass er der Familie entlaufen war. Der Mann, der sie adoptiert hatte, entschuldigte sich mehrmals; sowohl er als auch seine Frau versicherten ihr, Argos so gut wie ihr eigenes Kind behandelt zu haben, und bei ihnen im Grünen habe er auch immer ausreichend Auslauf gehabt, bestimmt mehr als in der Stadt. Sie legte auf, in der Gewissheit, dass Argos schon Schlimmeres hinter sich hatte, und dass sie alles für ihn getan hatte, was sie konnte, als sie noch gesund gewesen war.

In ihrem Sterbebett liegend begann sie zu fantasieren: davon, was Argos gedacht hatte, als er entlaufen war; an welchen Orten er vorbeigekommen und welchen Menschen und Hunden er begegnet war; welchen Gefahren er auf seiner Reise nur knapp entkommen war; wie er durch fremde Dörfer und Felder zurück zur Autobahn gefunden hatte; wie sein Herz pochte, als er am Ende der Autobahn seine alte Heimatstadt wiederfand; wie er vor Erschöpfung und dem Brennen in seinen drei Beinen am liebsten Platz gemacht hätte, ein bekannter Geruch ihn jedoch dazu brachte, weiter durch Straßen und Gassen zu laufen und zu laufen; wie er hechelnd durch Türen und weiße Gänge huschte; wie er wild zu wedeln und zu bellen begann, als er endlich ihr Krankenbett fand; und wie ein treuer, alter Mensch seinen Hund wiedersah, für einen Moment, und gleich darauf starb, ein letztes Mal mit den Lidern zuckend.

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