Gegenteil

„Nein, ich will nicht.“

Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, küsste Fürganz die tränennassen Lippen seiner Braut. Die Hochzeitgäste sprangen auf und klatschten, während der Priester das Paar lächelnd beobachtete. „Ich hasse dich“, flüsterte Fürganz, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, „ich hasse dich von ganzem Herzen.“ Seine Frau schlang die Arme um seinen Nacken und weinte vor Glück.

Die Hochzeit war einer jener Momente in Fürganz‘ Leben, in denen es seinen Mitmenschen besonders schwerfiel, mit seinem Sprachzustand umzugehen. Sein erstes Wort hatte er erst im Alter von drei Jahren gesprochen – nicht, weil er nicht dazu imstande gewesen wäre, schon früher mit dem Sprechen zu beginnen, sondern weil er die Sprache dieser Gesellschaft, zu der auch ich gehöre, einfach nicht begriff. Auf seine Schulnoten hatte diese Verzögerung zur Erleichterung seiner Eltern vorerst keine negativen Auswirkungen; bis in die Oberstufe verwendete Fürganz Sprache so wie alle in dieser Gesellschaft, von der ich erzähle. Am Abend seines sechzehnten Geburtstages offenbarte er seinen Eltern jedoch, was ihn immer gequält hatte: er fühle sich nicht wohl in dieser Gesellschaft und habe nie begriffen, warum alle immer das Gegenteil von dem sagen, was sie eigentlich meinen. Bisher habe er es sich nicht getraut, aber von nun an würde er immer genau das sagen, was er meine. Seine Eltern verstanden dieses Coming-out nicht – ich kann es ihnen nicht verübeln. Sie wechselten einen verwirrten Blick, und Fürganz‘ Mutter fragte, wie er denn ab jetzt sprechen wolle. „Natürlich so wie immer“, lautete die Antwort. Daraufhin lachten sie und wünschten ihm eine gute Nacht. „Schlaft schlecht“, erwiderte er und ging auf sein Zimmer.

In den ersten Tagen glaubten alle, Fürganz mache bloß einen Scherz. Als er auch nach einer Woche nur noch in Gegenteilen sprach, wurden er und seine Eltern zu einem Gespräch mit dem Direktor vorgeladen. Fürganz‘ Lehrer hätten sich beschwert, dass sein „Nein“ immer „Ja“ und sein „Ja“ immer „Nein“ bedeute, klagte der Direktor. Da jedoch kein Bitten und kein Drohen nutzte, beschloss man, ihn so zu akzeptieren, wie er war. Dem Vater fiel dies schwerer als der Mutter; er prophezeite seinem Sohn großen Ärger, wenn er den Rest seines Lebens in Gegenteilen sprechen würde, und letztendlich behielt er damit recht. Zuvor sollte ich jedoch noch von seiner beruflichen Karriere und seiner Ehe erzählen.

Nach der Schule bewarb sich Fürganz ausgerechnet als Wettermoderator. Ich dachte, es wäre in meiner Gesellschaft unmöglich, mit seinem Zustand einem normalen Beruf nachzugehen, geschweige denn Wettermoderator zu werden. Aus Mitgefühl beschloss man jedoch, ihm eine Chance zu geben. Innerhalb einer Woche wurde der Moderator, der immer das Gegenteil von dem ansagte, was eintreten würde, zu einer Internetsensation. Die Temperaturen gab Fürganz zwar korrekt wieder, da Zahlen bekanntlich nicht in ein Gegenteil verkehrt werden können; wenn er allerdings den Zusehern empfahl, einen Regenschirm einzustecken, bedeutete das für sie, eine Sonnenbrille aufzusetzen. Wenn er die Zuseher vor einem Unwetter warnte, wussten sie, dass sie sich auf einen sonnigen, windstillen Tag freuen konnten. Tatsächlich entpuppte sich der Beruf des Wettermoderators als ein Glücksgriff.

Im Privatleben hatte Fürganz jedoch große Schwierigkeiten. Es fiel ihm schwer, eine Frau näher kennenzulernen, ohne sie durch vermeintliche Beleidigungen wie „ich will dich nie wiedersehen“, „dein Parfum stinkt so sehr“ oder „ich hoffe du kommst nie zu Hause an“ zu verschrecken. Bevor sie von dem Tisch in dem jeweiligen Café aufstanden und flüchteten, wollten manche Frauen immerhin noch wissen, warum er sie so behandle, woraufhin er ihnen stets versicherte: „Ich behandle alle Frauen wie Dreck!“. Die Frau, die er schließlich heiratete, hatte selbst einen Makel, der Beziehungen zum anderen Geschlecht erschwerte: sie saß in einem Rollstuhl. Da der Elektroantrieb des Rollstuhls zu schwach war, konnte sie nach ihrer Verabredung mit Fürganz nicht schnell genug flüchten, sodass er sie auf dem Gehsteig einholte und so lange auf sie einredete, bis sie irgendwann seinen Zustand begriff.

Fürganz‘ Ehe war glücklich – bis seine Frau schwanger wurde. „Ich wollte noch nie ein Kind haben. Ich verabscheue diese Kreaturen“, hauchte er eines Nachts und küsste sie auf die Stirn. Die beiden lagen nebeneinander im Bett in ihrer gemeinsamen Wohnung. Da bat ihn seine Frau, nach der Geburt mit dem Kind so zu sprechen, wie es alle in dieser Gesellschaft tun, um es nicht zu verwirren. Aus dieser Bitte entwickelte sich ein nächtlicher Streit, den ich nicht im Detail wiedergeben möchte. Jedenfalls hatte sich Fürganz erhofft, sein Kind so zu erziehen, dass es eines Tages genau wie er immer das sagen würde, was es meinte, statt so im Gegenteil zu sprechen wie diese Gesellschaft. Seine Frau drohte ihm mit der Scheidung, wenn er sich davon nicht abbringen ließe. „Du redest wunderschön!“, schrie Fürganz sie an, „ihr redet alle wunderschön! Ich will, dass mein Kind auch so wird!“

Vor Aufregung stieß seine Frau, als sie sich aus dem Bett auf ihren Rollstuhl hieven wollte, gegen einen Wandschrank und wurde von Glasflaschen auf dem Kopf getroffen. Schreiend zuckte sie zusammen; die Scherben hinterließen blutende Schnitte. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Fürganz, der gerade in die Küche gehen wollte, um einen Verband zu holen, öffnete und erschrak, als er drei Polizisten vor sich sah. Die Nachbarn hätten Schreie und Lärm gehört, erklärten die Polizisten. Im Schlafzimmer fanden sie seine blutüberströmte Frau. Ihr Mann habe nichts getan, rief diese sofort, doch die Polizisten vermuteten, sie würde ihn bloß aus Angst verteidigen. Ob er betrunken sei, ob er mit seiner Frau gestritten und ob er sie geschlagen habe, fragten die Polizisten Fürganz. Bevor seine Frau noch einmal etwas dazwischenrufen konnte, beantwortete er alle drei Fragen mit „Ja, ich bin schuldig“.

Nachdem er lange Zeit zu Unrecht in einer Zelle gesessen war, wiederholte er vor Gericht sein „Ja, ich bin schuldig“. Der Richter verstand es als Geständnis, und ich kann es ihm nicht verübeln. Es war ein Missverständnis, für das Fürganz ins Gefängnis musste.

An dieser Stelle muss aber auch ein wirkliches Geständnis abgelegt werden: ich selbst habe dir diese ganze Geschichte im Gegenteil erzählt. Wie Fürganz vor seinem ersten Wort über die Sprache nachgedacht hat, habe auch ich, wie dir vielleicht aufgefallen ist, drei Zeilen gewartet und über deine Erwartungen nachgedacht, bevor ich mein erstes Wort geschrieben habe – ich wollte dich nicht verwirren. „Ja“, hätte das erste Wort dieser Geschichte eigentlich sein müssen. „Ja, ich will“, sagte Fürganz nämlich zu seiner Braut, bevor er sie küsste. „Nein, ich bin unschuldig“, antwortete er auf die Fragen der Polizisten und die Fragen vor Gericht. Warum, fragst du dich nun wohl, wurde Fürganz verhaftet und verurteilt, obwohl er in Wahrheit „Nein“ gesagt hat, wie es aus deiner Sicht jeder unschuldige Mensch getan hätte?

Die Antwort lautet, dass diese Gesellschaft, von der ich dir erzählt habe, nicht so spricht wie deine eigene. An dem Ort, von dem ich komme, würde es dir genauso gehen wie Fürganz. Vor unserem Gericht war Fürganz‘ „Nein, ich bin unschuldig“ ein Geständnis. Dein „Nein“ ist unser „Ja“ und dein „Ja“ unser „Nein“.

3 Kommentare zu „Gegenteil“

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