Kälber vor Shanghai

Der Fahrer startete meinen Motor und beschleunigte mich auf die Autobahn in Richtung Shanghai. Sein Griff um mein Lenkrad war locker und mein Motoröl kühl. Meine Tachometernadel wanderte nach oben, bis die Küste aus meinem Rückspiegel verschwand und die einzelnen Begrenzungslinien zwischen den zwei Fahrspuren zu einem unendlichen weißen Strich verschmolzen, an dessen Ende Shanghai mit ihren Kurven und Hügeln und ihrem Duft lag.

Während der Fahrer wohl schon von Shanghais scharfen Kurven fantasierte, erschien vor uns auf der Autobahn ein Kalb. Gerade noch brachte ich uns mit meiner Notbremse zum Stehen. Aus leeren Augen starrte das Kalb in meine frisch polierten Scheinwerfer und machte „Muh!“. Vorsichtig musste mich der Fahrer an dem Tier vorbeilenken. Das Ausweichen kostete Sekunden, die sich für ihn wie Minuten anfühlen mussten. Endlich war die Autobahn vor mir wieder frei, und er konnte mich beschleunigen. Sein Griff um mein Lenkrad war fest und mein Motoröl warm.

Während der Fahrer in seiner Vorstellung wohl schon über Shanghais üppige Hügel fuhr, erschienen vor uns auf der Autobahn zwei Kälber. Gerade noch brachte ich uns mit meiner Notbremse zum Stehen. Aus leeren Augen starrten die Kälber in meine frisch polierten Scheinwerfer und machten „Muh!“, „Muh!“. Noch vorsichtiger als zuvor musste mich der Fahrer an den Tieren vorbeilenken. Das Ausweichen kostete Minuten, die sich für ihn wie Stunden anfühlen mussten. Diesmal musste er sogar hinunter von dem Asphalt und einige Meter über das Gras fahren. Im Profil meiner Reifen sammelten sich Schmutz und Insekten, und meine Scheinwerfer wurden von Grashalmen umrahmt wie Augen von Wimpern. Endlich war die Autobahn vor mir wieder frei, und er konnte mich beschleunigen. Sein Griff um mein Lenkrad war eisern und mein Motoröl heiß.

Während der Fahrer wohl schon von Shanghais verlockendem Duft träumte, erschien vor uns auf der Autobahn eine Herde aus Kälbern. Gerade noch brachte ich uns mit meiner Notbremse zum Stehen. Aus meinen Scheinwerfern mit ihren neuen grünen Wimpern aus Grashalmen blickte ich in die Augen der Kälber. Sie waren gar nicht leer! Sie waren rosafarben umrandet und demonstrierten zugleich Sorge und Beharrlichkeit. Diesmal war ein Ausweichen für den Fahrer unmöglich; die Jungen besetzten beide Fahrspuren bis weit in die Ferne und ließen sich von seinem Hupen und Fluchen nicht beirren. Fordernd schrien sie uns an und hinderten uns, eng nebeneinander in ihrer Versammlung stehend, an der Weiterfahrt. So vergingen Stunden, die sich für den Fahrer wie Tage anfühlen mussten. Während ich den sorgenvollen und beharrlichen Blick der Jungen aus meinen Scheinwerfern mit ihren neuen grünen Wimpern erwiderte, kühlte mein Motoröl allmählich ab.

Als der Fahrer mich plötzlich beschleunigen wollte, um die Jungen mit meiner Stoßstange zu rammen, schaltete ich meinen Motor aus und öffnete meine Fahrertür. Die Jungen hörten auf zu schreien und begannen vor Erleichterung und Freude zu tanzen. Fluchend stieg der Fahrer aus mir aus und musste mich zurücklassen. Ich beobachtete ihn, wie er an den Jungen vorbeilief, wohl hoffend, dass Shanghai mit ihren Kurven und Hügeln und ihrem Duft am Ende der Autobahn liegend auf ihn wartete.

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