Nach jahrelanger Reise durch die Sterne sprang das weiße Raumschiff mit den zwei rotstrahlenden Triebwerken in das Wurmloch. Der Eingang des Lochs lief erst geradeaus wie ein Tunnel und schien sich dann plötzlich abwärts zu krümmen. Das Raumschiff stürzte hinab wie ein Kind in den tiefsten aller Brunnen. So schnell, wie der Sturz begonnen hatte, war er auch vorbei: Mit einem Mal landete das Raumschiff in einer fremden Galaxie auf einem unerforschten Planeten, mitten auf einer Wiese in einem Haufen Laub. Seine Landeklappe öffnete sich, und zwei Menschen in Raumanzügen und undurchsichtigen Helmen betraten die fremde Welt.
Vor ihnen auf der Wiese stand ein gedeckter Teetisch, und an dem Tisch saßen sechs Wesen. In ihrem Bericht an das Hauptquartier auf der Erde würden die beiden Menschen sie später als humanoide Hasen beschreiben: Ihre Oberkörper und Extremitäten seien denen von Menschen ähnlich, während ihre Köpfe, insbesondere die Form ihrer Nase und die Größe ihrer Ohren, an Hasen erinnern würden.
An der linken Seite des Tisches saßen drei weibliche Wesen, an der rechten drei männliche. Auf die spätere Rückfrage von der Erde, wie sie den Unterschied zwischen den Geschlechtern dieser Wesen hätten feststellen können, würden sie antworten, dass er offensichtlich gewesen sei – die Unterschiede zwischen den Männchen und Weibchen bestünden in der Form ihrer Gesichtszüge, der Breite ihrer Becken und Schultern, der Sichtbarkeit ihres Adamsapfels, dem Klang ihrer Stimmen und anderen körperlichen Merkmalen.
Der Tisch war winzig, sodass die humanoiden Hasen auf beiden Seiten dicht zusammengedrängt saßen. „Genug Platz! Genug Platz!“, rief das am linken Rand sitzende Hasenweibchen, sobald es die Menschen kommen sah.
„Da ist gar kein Platz“ sagte einer der beiden Menschen.
„Wir stehen lieber“, sagte der andere Mensch.
Die drei Hasenweibchen hielten Teetassen in den Pfoten. Die drei Hasenmännchen hingegen hatten keine Tassen. Dafür trugen sie bunte Teetücher wie Schleier auf den Köpfen, die ihre Ohren vollständig verhüllten.
„Nehmt euch etwas Tee aus der Kanne“, bot das zweite Hasenweibchen an.
„Gerne. Wo ist die Kanne?“ fragte einer der beiden Menschen.
„Sie kreist im Weltall um unseren Stern Nari“, erklärte das dritte Hasenweibchen.
Die Menschen blickten in den Himmel. „Also ich sehe keine Kanne“, sagte einer der beiden. „Habt ihr ein Teleskop?“
„Die Kanne ist zu klein, um durch ein Teleskop gesehen werden zu können. Das ist in der Teegesellschaft schon seit Jahrhunderten bekannt.“
„Wie groß ist denn eure Teegesellschaft?“
„Sie erstreckt sich über alle Planeten in diesem System. Wir alle lieben Tee.“
„Wir haben eine lange Reise hinter uns. Ich hätte echt gerne einen Kaffee“, bat einer der beiden Menschen.
Die Hasen blinzelten sich verwirrt an. „Diese Teesorte haben wir leider nicht.“
„Wozu die Teetücher auf euren Köpfen?“, fragte der andere Mensch.
Da sagte das erste Hasenmännchen mit bebender Stimme: „Gute Frage. Meine Ohren jucken.“ Und zu den Weibchen auf der anderen Seite des Tisches sagte es: „Wieso müssen wir sie immer und überall tragen, ihr aber nicht?“
Plötzlich ertönte unter dem Tisch ein tiefes, fürchterliches Knurren. Das erste Hasenmännchen hatte schon die Pfote gehoben, um sich das Teetuch von den Ohren zu ziehen, doch nun erstarrte es.
Da sagte das zweite Hasenmännchen mit zitternder Nase zu den Weibchen: „Wieso habt ihr eure eigenen Tassen, aber wir nicht? Wir möchten auch Tee trinken können, wann wir wollen.“
Wieder knurrte es unter dem Tisch, diesmal noch tiefer und fürchterlicher, und das zweite Hasenmännchen verstummte.
Da sagte das dritte Hasenmännchen mit aufgerissenen Augen: „Ich glaube nicht, dass eine Kanne um Nari kreist. Vielleicht gibt es gar keinen Tee.“ Die beiden Menschen warfen einen Blick in die Tassen: Sie waren leer.
Wieder knurrte es unter dem Tisch, diesmal am tiefsten und fürchterlichsten, und plötzlich sprang hinter der Tischdecke eine humanoide Wölfin hervor. Sie packte das dritte Hasenmännchen mit den Zähnen am Genick und schliff es in ein Gebüsch. Daraufhin rissen sich die anderen beiden Hasenmännchen die Teetücher von den Ohren, rannten ihrem panisch fiependen Freund nach und verschwanden ebenso im Gebüsch.
Die beiden Menschen sahen nicht, welche Seite siegreich aus dem Kampf hervortreten würde – die drei Hasenmännchen oder die Wölfin. Sie hatten genug gesehen. Sie kehrten zu ihrem Raumschiff zurück, hoben ab und sprangen wieder in das Wurmloch, um ihre Mission fortzusetzen.
In ihrem Bericht an die Erde argumentierten die beiden gegen eine Besiedelung des Planeten durch die Menschheit. Die dort herrschende Moral sei ihnen zu fremd; eine Kooperation mit der Teegesellschaft wäre schwierig oder gar unmöglich. Sie waren sich einig, dass die Unterdrückung der Männchen durch die Weibchen ungerecht war.
„Zum Glück ist es bei uns daheim andersherum“, dachte der Astronaut.
„Zum Glück kann er meine Gedanken nicht lesen“, dachte die Astronautin.
Sehr gut geschrieben und ja, mal andersrum 🙂
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