Kamal

Gastbeitrag von Lena Starkl

Er ist auf einen Sessel gestiegen. Den Gürtel hat er irgendwie auf die Decke gepickt oder in der Tür eingezwickt. Er hat seinen Kopf durch die Schlinge gesteckt. Die hat er so gemacht, dass er den Gürtel aufs letzte Loch gestellt hat. Vielleicht hat er ihn aber auch erst dann eingestellt, wie er den Kopf schon durchgehabt hat. Damit er ganz fest ist und der Kopf nicht durchrutschen kann. Dann hat er den Sessel mit den Füßen umgeschmissen. Die Füße waren dann in der Luft und der Gürtel hat ihm langsam die Luft abgeschnürt. Er ist dann wahrscheinlich ganz blau oder rot geworden. Wie die ganze Luft dann weg war, ist er tot gewesen. So stell ich mir das halt vor. Aber ich weiß ja nicht, wie man sich erhängt.

Ich war jetzt nicht so traurig darüber, weil ich eigentlich nix von ihm gewusst hab. Seinen Namen hab ich mir von allen am besten gemerkt, weil ich immer an Kamel gedacht hab. Am Montag in der Früh war‘s auf jeden Fall in der ganzen Schule komisch. Obwohl ich noch gar nix gewusst hab, hab ich mir irgendwie gedacht, dass was los war. Der Auer hat mit uns geredet wie mit kleinen Kindern und hat gar nicht geschimpft, wenn der Joel laut war. In der Stunde hat sogar die Lisa einmal dem Balti eine runtergehaut und der Auer hat nix gesagt. In der zweiten Stunde haben wir dann unseren Klassenvorstand gehabt. Die hat uns dann erzählt, dass sich der Kamal am Wochenende umgebracht hat. Mitten in der Stunde ist dann eine reingekommen. Die war Psychologin und hat uns Fragen gestellt und so. Die Alex hat dann erzählt, dass sie auch schon mal überlegt hat, dass sie sich umbringt. Da hat die Psychologin ganz groß geschaut und die Alex gleich mitgenommen. Wie‘s zur Pause geläutet hat, ist die Psychologin dann noch mal vor der Tür gestanden und hat mit unserem Klassenvorstand geredet. Ich hab ein bisschen was gehört, weil ich in der ersten Reihe gleich bei der Tür gesessen bin.

„Es ist tatsächlich äußerst ungewöhnlich, dass Kinder im Alter von elf Jahren Selbstmord begehen. Vor allem, dass sie sich erhängen“, hat die Psychologin zur Petrovic gesagt. Die Petrovic hat immer den Kopf geschüttelt und am Boden geschaut.

In der Pause hab ich unsere anderen Flüchtlinge beobachtet. Die haben eigentlich wie immer gewirkt. Ich hab auch nix verstanden, was sie gesagt haben, weil sie in ihrer Sprache geredet haben. Ein paar von denen haben schon echt gut Deutsch können und ich hab manchmal mit ihnen geredet. Vor allem mit der Fatima hab ich mich recht gut verstanden. Ich hab’s schon ganz normal gefunden, dass die bei uns waren. Ich hab die ja jeden Tag gesehen und hab gemerkt, dass halt manche komisch waren und manche sind ganz normal und nett gewesen. So wie alle anderen aus der Klasse manchmal komisch und manchmal normal waren. Mit dem Kamal hab ich aber eigentlich nie was geredet, weil der irgendwie mit niemandem was zu tun haben wollte. Mir ist schon aufgefallen, dass er immer recht traurig ausgeschaut hat. Seine Augen sind so gewesen, als ob er gar nix gesehen hätte. So nach innen. Die Fatima hat gesagt, dass der Kamal nie wirklich angekommen ist. Weil beide Eltern im Krieg gestorben sind. Der Kamal ist allein mit seinen drei oder vier Geschwistern da gewesen. Ob ich mich umbringen würde, wenn die Mama und der Papa sterben, hab ich mir überlegt. Schlimm wär’s schon, aber ich hätte ja noch die Oma und den Opa. Und meine Freunde aus der Schule und aus dem Gemeindehaus.

Ich kann mich erinnern, dass ich nur einmal mit dem Kamal geredet hab. Das war in der Englischstunde. Englisch hat der Kamal nämlich ganz gut können. Nur Deutsch noch nicht so. Die Lehrerin hat mit uns ein Spiel gespielt. Sie hat immer zwei Sachen gesagt und gesagt, wenn wir das eine lieber mögen, sollen wir auf die eine Seite gehen, und wenn wir das andere lieber mögen, auf die andere. Dann haben wir mit den Leuten auf unserer Seite ein bisschen über das reden müssen. Sie hat zum Beispiel gesagt: „Herr der Ringe oder Harry Potter? Sommer oder Winter?“. Halt alles auf Englisch. Wie sie gefragt hat, ob wir Hunde oder Katzen lieber mögen, bin ich zu den Hunden gegangen und da ist der Kamal neben mir gestanden. Er hat wieder so in sich reingeschaut und ich war mir gar nicht sicher, ob er gecheckt hat, was wir da machen. Ich hab halt dann gesagt, dass ich Hunde lieber mag, weil sie mehr auf einen aufpassen können. Die bellen, wenn uns wer was stehlen will. Das Wort für ‚bellen‘ hab ich nicht gewusst, also hab ich’s versucht zu zeigen und hab halt dann einfach gebellt. Da hat der Kamal auf einmal mich angeschaut und die Augen ganz groß gemacht. Dann hat er, glaub ich, sogar ein bisschen gelacht. Ich hab dann noch mal gebellt und er hat wieder ein bisschen gelacht. Später hab ich mir dann überlegt, ob die in seinem Land überhaupt auch so Hunde und Katzen haben wie wir. Mir ist gar nicht mehr eingefallen, wo der Kamal eigentlich her war. Ich hab mir vorgenommen, dass ich ihn in der Schule mal frag. Aber ich hab’s dann wieder vergessen.

Am Nachmittag hab ich dann der Mama erzählt, was in der Schule wegen dem Kamal los gewesen ist. Die Mama war recht aus dem Häusl und hat recht viel gefragt. So wie die Psychologin. Am Abend hat sie’s dann gleich dem Papa weitererzählt, wie er Abend gegessen hat.

„A Flüchtling?“, hat der Papa gesagt. Die Mama hat ‚ja‘ gesagt und dann wollt der Papa wissen, was das für einer ist und wo der her ist. Die Mama hat mich gefragt und ich hab gesagt, dass ich’s nicht weiß.

„Solang de sonst kan umbringen, sollen’s machen, was‘ wollen“, hat der Papa dann gesagt. Da bin ich ein bisschen böse geworden und hab gesagt:

„Kamal hat er geheißen. Und er war elf. So wie ich. Und Hunde hat er lieber mögen als Katzen.“

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